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Die, deren reale Ohnmacht andauert, ertragen das Bessere nicht einmal als Schein

"Nationalismus heute ist überholt und aktuell zugleich. Überholt, weil angesichts der zwangsläufigen Verbindung von Nationen zu Großblöcken unter der Suprematie der mächtigsten, wie sie allein schon die Entwicklung der Waffentechnik diktiert, die souveräne Einzelnation, zumindest im fortgeschrittenen kontinentalen Europa, ihre geschichtliche Substantialität eingebüßt hat. Die Idee der Nation, in der einmal sich die wirtschaftliche Einheit der Interessen freier und selbständiger Bürger gegenüber den territorialen Schranken des Feudalismus zusammenfaßte, ist selbst, gegenüber dem offensichtlichen Potential der Gesamtgesellschaft, zur Schranke geworden. Aktuell aber ist der Nationalismus insofern, als allein die überlieferte und psychologisch eminent besetzte Idee der Nation, stets noch Ausdruck der Interessengemeinschaft in der internationalen Wirtschaft, Kraft genug hat, Hunderte von Millionen für Zwecke einzuspannen, die sie nicht unmittelbar als die ihren betrachten können. Der Nationalismus glaubt sich selbst nicht ganz mehr und wird doch politisch benötigt als wirksamstes Mittel, die Menschen zur Insistenz auf objektiv veralteten Verhältnissen zu bringen. Daher, als ein sich selbst nicht ganz Gutes, absichtsvoll Verblendetes, hat er heute die fratzenhaften Züge angenommen. Sie haben ihm, der Erbschaft barbarisch primitiver Stammesverfassungen, freilich nie ganz gefehlt, waren aber doch so lange gebändigt, wie der Liberalismus das Recht der Einzelnen auch real als Bedingung kollektiver Wohlfahrt bestätigte. Erst in einem Zeitalter, in dem er sich bereits überschlug, ist der Nationalismus ganz sadistisch und destruktiv geworden. Schon die Wut der Hitlerschen Welt gegen alles, was anders ist, Nationalismus als paranoides Wahnsystem, war von solchem Schlag; die Attraktionskraft gerade dieser Züge ist heute schwerlich geringer. Paranoia, der Verfolgungswahn, der die anderen verfolgt, auf die er projiziert, was er selber möchte, steckt an. Von kollektiven Wahnvorstellungen wie dem Antisemitismus wird die Pathologie des Einzelnen, der psychisch der Welt nicht mehr gewachsen sich zeigt und auf ein scheinhaftes inneres Königreich zurückgeworfen ist, bestätigt. Sie mögen wohl gar, nach der These des Psychoanalytikers Ernst Simmel, den einzelnen Halbirren davon dispensieren, ein ganzer zu werden. So offen das Wahnhafte des Nationalismus heute in der vernünftigen Angst vor erneuten Katastrophen zutage liegt, so sehr befördert es seine Ausbreitung. Wahn ist der Ersatz für den Traum, daß die Menschheit die Welt menschlich einrichte, den die Welt der Menschheit hartnäckig austreibt. Mit dem pathischen Nationalismus geht aber alles zusammen, was sich von 1933 bis 1945 zutrug. Daß der Faschismus nachlebt; daß die vielzitierte Aufarbeitung der Vergangenheit bis heute nicht gelang und zu ihrem Zerrbild, dem leeren und kalten Vergessen, ausartete, rührt daher, daß die objektiven gesellschaftlichen Voraussetzungen fortbestehen, die den Faschismus zeitigten. Er kann nicht wesentlich aus subjektiven Dispositionen abgeleitet werden. Die ökonomische Ordnung und, nach ihrem Modell, weithin auch die ökonomische Organisation verhält nach wie vor die Majorität zur Abhängigkeit von Gegebenheiten, über die sie nichts vermag, und zur Unmündigkeit. Wenn sie leben wollen, bleibt ihnen nichts übrig, als dem Gegebenen sich anzupassen, sich zu fügen; sie müssen eben jene autonome Subjektivität durchstreichen, an welche die Idee von Demokratie appelliert, können sich selbst erhalten nur, wenn sie auf ihr Selbst verzichten. Den Verblendungszusammenhang zu durchschauen, mutet ihnen eben die schmerzliche Anstrengung der Erkenntnis zu, an welcher die Einrichtung des Lebens, nicht zuletzt die zur Totalität aufgeblähte Kulturindustrie, sie hindert. Die Notwendigkeit solcher Anpassung, die zur Identifikation mit Bestehendem, Gegebenem, mit Macht als solcher, schafft das totalitäre Potential. Es wird verstärkt von der Unzufriedenheitund der Wut, die der Zwang zur Anpassung selber produziert und reproduziert. Weil die Realität jene Autonomie, schließlich jenes mögliche Glück nicht einlöst, das der Begriff von Demokratie eigentlich verspricht, sind sie indifferent gegen diese, wofern sie sie nicht insgeheim hassen. Die politische Organisationsform wird als der gesellschaftlichen undökonomischen Realität unangemessen erfahren; wie man selber sich anpassen muß, so möchteman, daß auch die Formen des kollektiven Lebens sich anpassen, um so mehr, als man von solcher Anpassung das streamlining des Staatswesens als eines Riesenunternehmens imkeineswegs so friedlichen Wettbewerb aller sich erwartet. Die, deren reale Ohnmacht andauert, ertragen das Bessere nicht einmal als Schein; lieber möchten sie die Verpflichtung zu einer Autonomie loswerden, von der sie argwöhnen, daß sie ihr doch nicht nachleben können, und sich in den Schmelztiegel des Kollektiv-Ichs werfen." (Th. W. Adorno, "Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit")

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  • Th. W. Adorno, "Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit" Die, deren reale Ohnmacht andauert, ertragen das Bessere nicht einmal als Schein Von: TheNokturnalTimes www.youtube.com/watch?v=W-Tr...

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